Während Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen inzwischen größere Verbreitung findet, ist Biografiearbeit mit Eltern weniger verbreitet. Als ein wichtiges Merkmal von Elternbildungskonzepten gilt die Ermutigung und Unterstützung zur Selbsterfahrung und Selbsterziehung. In unseren Projekten haben wir erfahren, dass Biografiearbeit dabei ein wertvoller Baustein sein kann.
Unsere Arbeit mit Eltern begannen im Rahmen des Projekts Biografiearbeit im Stadtteil, das wir im Berliner Bezirk Wedding durchgeführt haben. Dieser ist durch einen hohen Anteil an Bewohner*innen mit internationalem Hintergrund geprägt. In den Projekten mit Kindern stellten wir fest, dass viele Kinder wenig über die Herkunftsländer und Migrationsgeschichten ihrer Eltern wussten, die doch ein essenzieller Teil von deren Leben sind. So entstand die Idee, dass Eltern für ihre Kinder ein Lebensbuch schreiben, in denen Sie in kindgerechter Sprache mehr über sich erzählen. Dass es dabei viel um das Thema Migration geht, bedeutet nicht, dass diese Methode sich nur dafür eignet. Im Gegenteil: So sagte eine Schulleiterin (mit deutschem Hintergrund), die eines der Elternbüchlein in Händen hielt: Das möchte ich auch haben!
Biografiearbeit mit Eltern mit Migrationshintergrund
In der Arbeit mit Eltern mit Migrationshintergrund nimmt Biografiearbeit einen zunehmend größeren Stellenwert ein: „Durch diese Methode lernen die TeilnehmerInnen, welche belastenden, aber vor allem welche unterstützenden Werte sie von ihrer Familie und Umgebung erworben haben. Die TeilnehmerInnnen hören verschiedene Lebensgeschichten und lernen voneinander, welche Stärken sie bisher entwickelt haben“ (Altan/ Eißler/ Pfendtner 2011).
Eine Tradition, in der sich Biografiearbeit befindet, ist die Oral History, die ihre Ursprünge in den Geschichtswissenschaften hat (Miethe 2011). Damit ist die Alltags- und Erfahrungsgeschichte der sogenannten „einfachen Leute“ gemeint, wie sie in den Geschichtsbüchern meist nicht zu finden ist. Oral History-Ansätze mit ihrem Ziel, Menschen „als ‚Objekte’ der großen historischen Prozesse zu ‚Subjekten’ ihrer eigenen Geschichte werden zu lassen“ (ebd.) stellen auch für Migrant*innen eine Möglichkeit dar, sich ihrer eigenen Geschichte zu bemächtigen.
Wer sich in Projekten zur Biografiearbeit mit kultureller Herkunft befasst, muss sich – um den ethischen Rahmenbedingungen für Biografiearbeit gerecht zu werden – auch als Anleitende*r mit der eigenen kulturellen Herkunft auseinanderzusetzen. Dies bedeutet, die Konstruiertheit kultureller Muster und Selbstverständlichkeiten anzuerkennen – „nicht nur die anderen sind ‚anders’, sondern auch wir selbst“ (Mecheril 2004).
Ressourcen von Familien wahrnehmen
Ressourcenorientierung bedeutet, den Blick auf Potenziale zu richten, auch im Zusammenhang mit Migration. „Werden Migranten und Migrantinnen als deutende und handelnde Subjekte wahrgenommen, stehen nicht Defizite, abweichendes Verhalten und Schwächen im Fokus des Blickes auf die Kinder, Jugendlichen und Eltern mit Migrationshintergrund, sondern ihr selbstbewusster Umgang mit ihrer Lebenssituation“ (Altan et al. 2009). Ressourcenorientierung in der Biografiearbeit bedeutet, die Anlässe, die Migration zur Herausbildung von Stärken bietet, in den Mittelpunkt zu stellen. „Die mit Migration verbundenen Erfahrungen [beinhalten] nicht nur Risiken für die Identitätsentwicklung […], sondern auch Chancen und Erweiterungen der persönlichen und kulturellen Kreativität“ (King 2005). So stellen bikulturelle Identitäten und Bilingualismus laut (Uslucan 2011) wesentliche Entwicklungschancen dar.
Geschichten und Sprachenvielfalt als Ressource
Wie sich in unseren Projekten zeigt, scheinen erzählerische Fähigkeiten zu den Ressourcen vieler Migrant*innen zu gehören. Neben der Tatsache, dass der Prozess der Migration „Erzählstoff“ mit sich bringt, zeigt sich nicht selten ein Vertrautsein mit narrativen Formen, die in der Familie bzw. im Herkunftsland weitergegeben wurden. Vor allem ältere Teilnehmende lassen einen starken Bezug zu mündlichen Erzählungen erkennen, wenn sie traditionell damit in Berührung gekommen sind. Das Spektrum der Teilnehmer*innen an unserem Kurs Meine Geschichte für Dich reichte von der Aussage: „So etwas habe ich noch nie gemacht!“ bis hin zu einem ausgeprägten Bewusstsein von der Einmaligkeit des eigenen Lebensweges.
Ressourcenorientierung in der Biografiearbeit mit Menschen mit Migrationshintergrund beinhaltet auch, die Muttersprache als Ressource zu begreifen. Es geht in unseren Projekten nicht um einen versteckten Deutschunterricht. Die Unterstützung beim Niederschreiben geschieht selbstverständlich und nebenbei, wenn möglich auch mit Hilfe anderer Projektteilnehmer*innen. Das Lektorat der geschriebenen Texte betrifft ausschließlich die Sprache und nicht die Art und Weise des Erzählens oder den Inhalt. Gleichzeitig werden auch Texte in der Muttersprache verfasst, was nicht selten dazu führt, dass die Teilnehmer*innen ihre Ausdrucksfähigkeit auf die deutschen Texte übertragen.
Meine Geschichte(n) für Dich – Vorgehensweise
Im Rahmen unseres Projektes Meine Geschichte(n) für Dich verfassen die teilnehmenden Eltern und Großeltern für ihre Kinder bzw. Enkelkinder kleine Bücher, in denen sie von ihrer eigenen Kindheit und Jugend und aus ihrem Herkunftsland bzw. dem Herkunftsland der Familie berichten. Dazu kommen persönliche Fotos, Landkarten und Bilder, teilweise von den Kindern gemalt, die die Texte ergänzen.
Die Projekteinheiten sind so aufgebaut, dass die Teilnehmer*innen sich im ersten Teil vor allem mündlich mit einem Thema befassen, das zu Beginn vorgegeben, im Laufe des Kurses zunehmend selbst gewählt wird. Ziel ist dabei auch das gegenseitige Kennenlernen und das Schaffen eines Vertrauensverhältnisses. Themen, die angesprochen werden, sind u. a.
- Kindheit
- Jugend
- Lebensorte
- Herkunftsland
- Wegfahren und Ankommen
- Geschichten vom Zuhause sein
- Familie sein
- Wünsche und Träume
Im ersten Teil erhalten die Eltern Gelegenheit, sich über persönliche Themen auszutauschen. Im zweiten Teil steht dann das Erzählen für die eigenen Kinder im Vordergrund. Um den Schritt zum ersten Schreiben möglichst einfach zu gestalten, folgt das Verfassen von kleinen Texten und Kurzgedichten, entweder frei oder nach Vorgaben. Während der letzten Treffen arbeiten die Autor*innen am Computer, um ihre mündlichen bzw. handschriftlich verfassten Erzählungen einzugeben, wobei die Ergebnisse von Woche zu Woche durch die Anleitenden lektoriert werden.
Mehr über unsere Arbeit sowie die Texte der Teilnehmer*innen finden Sie in unserem Buch: