Was ist Biografiearbeit?
Biografiearbeit ist eine Methode, die sich in den letzten Jahrzehnten in Sozialer Arbeit, Erziehung und Bildung, Kultur, Beratung und Gesundheitswesen entwickelt hat. Im Mittelpunkt steht die Reflexion des eigenen Lebens in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.
Biografische Selbstreflexion entsteht durch „das Herstellen von Sinnzusammenhängen biografischer Erfahrungen“ (Gudjons et al. 2008). Um diese zu erreichen nutzt Biografiearbeit unterschiedliche Medien und kreative Methoden: So gibt es einerseits die mündliche bzw. gesprächsbasierte Biografiearbeit, zu denen das Erzählen gehört. Diese findet z.B. in Beratungsgesprächen statt. Darüber hinaus haben sich besondere Formate der mündlich-narrativen Biografiearbeit entwickelt, wie z.B. das Erzählcafé.
Erzählungen kommen in der Biografiearbeit auch über andere Medien und Gestaltungsformen zum Ausdruck, z.B. über das biografische Schreiben, Fotografieren, künstlerische Gestalten, Film, Theater, Podcast, Bloggen usw. Somit befasst sich Biografiearbeit oft auch mit Fragen der Medienpädagogik.
Eine weitere Form stellt die aktivitätsorientierte Biografiearbeit dar, die verschiedene (Lieblings-)Aktivitäten mit biografischer Selbstreflexion verbindet, z.B. Kochen, Musik machen, Gärtnern usw.
Biografiearbeit ist vor allem prozessorientiert, d.h. der Prozess und die damit einhergehende Entwicklung neuer persönlicher Perspektiven, Ressourcen usw. steht im Vordergrund. Gleichzeitig entsteht in der Biografiearbeit oft ein Produkt, das wichtige Funktionen übernimmt und zur Weiterarbeit motiviert. So dokumentiert das Lebensbuch wichtige Erinnerungen und Lebensstationen, die auch nach dem Abschluss eines Biografieprojekts zur Fortführung der Biografiearbeit – z.B. über Gespräche mit Familienmitgliedern – anregen.
Ein wichtiges Merkmal von Biografiearbeit ist die Bezugnahme auf die Lebenswelt sowie auf äußere Rahmenbedingungen, in denen das eigene Leben stattfindet bzw. stattfand. Dies kann gesellschaftliche, kulturelle, politische, soziale u.a. Aspekte beinhalten. Dadurch wird das Verständnis für die eigene Person, den eigenen Lebensweg aber auch deren Verflechtung mit äußeren und strukturellen Lebensumständen deutlich.
Biografiearbeit richtet ihren Blick nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf Gegenwart und Zukunft. Dadurch besteht die Chance, gegenwärtiges und zukünftiges Leben individuell zu entwerfen und neue Handlungsmöglichkeiten auszuloten. So trägt sie zur Entwicklung der „Schlüsselkompetenz bewusster Lebensgestaltung“ bei (Jansen 2011, S. 20).
Biografie – Ein Begriff mit vielen Facetten
Wir verstehen unter Biografie die „Organisation und Neuorganisation von Erfahrungen“ (Schulze 1993). Die Biografie ist demnach ein Konstrukt, das jeder Mensch mehr oder weniger bewusst immer wieder neu gestaltet.
Dabei spielt nicht nur die Vergangenheit eine prägende Rolle, sondern auch die aktuelle Lebenssituation, in der Ereignissen oder Lebensphasen bestimmte Bedeutungen beigemessen werden. Indem Erinnerungen mitgeteilt und gehört werden, erfahren sie Wertschätzung.
Manchmal geschieht dies beim Fragen nach scheinbar Nebensächlichem: „Ich dachte gar nicht, dass das jemanden interessieren könnte“, erwiderte eine Teilnehmerin auf die Ermunterung, über wichtige Lernerfahrungen in ihrer Kindheit zu berichten. Später schrieb sie darüber zum ersten Mal etwas für ihre Familie auf.
Ressourcenorientierte Biografiearbeit
Ressource (frz. ressource = Mittel, Quelle)
Biografie (griech. bios = Leben, gráphein = darstellen, schreiben)
Folgt man der ursprünglichen Bedeutung der Worte Ressource und Biografie, lässt sich ressourcenorientierte (Auto-)Biografiearbeit als ein auf die Quellen ausgerichtetes Darstellen des eigenen Lebens beschreiben.
Ressourcenorientierte Biografiearbeit hat in Anlehnung an Hölzle (2011a) vier Schwerpunkte:
- biografisch erworbene Ressourcen bewusst und nutzbar machen
- Handlungsspielräume im eigenen Leben erkennen
- Krisen als Herausforderungen und Lernchancen begreifen
- Gemeinsames im Individuellen entdecken.
Grundlagen ressourcenorientierter Biografiearbeit
In den letzten Jahrzehnten hat in den Sozial- und Gesundheitswissenschaften ein Umdenken stattgefunden: Es entstanden Konzepte, die nicht nur Defizite und Krankheiten, sondern Ressourcen und Wachstumspotenziale des Menschen in den Mittelpunkt stellen.
Dazu gehören vor allem die Resilienzforschung, die Salutogenese sowie das Konzept der Selbstwirksamkeit. Die Ressourcenorientierung ist ein zentrales Merkmal dieser Ansätze und bildet auch die Grundlage für unsere Arbeit.
Ressourcenorientierte Biografiearbeit unterstützt dabei
- sich selbst auf dem Hintergrund der eignen Lebensgeschichte zu verstehen
- Ressourcen in der Lebensgeschichte wahrzunehmen
- eigene Potenziale zu nutzen, um Gegenwart und Zukunft bewusst zu gestalten
- Beziehungen, Kontakte und soziale Netzwerke zu stärken und zu aktivieren.
Das Erzählen von Lebensgeschichten sehen wir bereits als einen ersten Schritt der bewussten Lebensgestaltung.
Biografiearbeit ist ein kommunikativer Akt und bedarf in der Regel eines Gegenübers. Das wertschätzende Teilen und Zuhören bzw. Rezipieren von Erzählungen ist ein zentraler Teil der Arbeit. So können durch wohlwollendes Zuhören neue Erzählungen und damit auch neue Lebensperspektiven entstehen.
Wir betrachten Ressourcenorientierung nicht nur als erhellende Theorie für unsere Arbeit, sondern auch als ein Lernfeld, sowohl für die Adressat*innen als auch die Durchführenden von Biografiearbeit. Ressourcenorientierung ist unserer Auffassung nach eine Sichtweise, die sich nicht durch einmalige Wissensaufnahme aneigenen lässt, sondern in einem längern Erfahrungsprozess eingeübt werden muss. Daher nimmt dieses Thema in unseren Weiterbildungen einen wichtigen Raum ein.
Ressourcenorientierte Biografiearbeit als Empowerment
Der Begriff Empowerment bedeutet so viel wie „Selbstermächtigung, Stärkung von Eigenmacht und Autonomie“ (Herriger 2010).
Wer erzählt, verleiht der eigenen Geschichte im Nachhinein eine neue Bedeutung. Wie diese Deutung ausfällt, hängt sehr stark mit der aktuellen Lebenssituation zusammen, in der sich ein Mensch befindet. Wenn diese Situation durch Erfahrungen von Wertlosigkeit und Schwäche geprägt ist, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch die Deutung vergangener Erfahrungen diesen Zustand untermauert. Im Sinne des Empowerments wird die eigene Lebensgeschichte nicht aus einer Ohnmachtshaltung, sondern aus einer Haltung der Selbstermächtigung interpretiert. Diese zu stärken ist ein wichtiges Anliegen ressourcenorientierter Biografiearbeit. Damit einher geht auch die Anerkennung von Lebensleistungen, die vielleicht als solche nicht wahrgenommen wurden.
Ethische Standards von Biografiearbeit
Biografiearbeit hat sich als seit den 1970er/1980er Jahren in Deutschland entwickelt. In viele Bereiche wie Erziehung und Bildung, Soziale Arbeit, Gesundheits- und Altenpflege, Kultur, Beratung und Lebensbegleitung hat sie inzwischen Eingang gefunden.
Ethische Standards, wie sie von Fachkräften entwickelt wurden (Hölzle/Jansen 2011; Miethe 2011; Morgenstern 2015) sollten für professionell angeleitete Biografiearbeit inzwischen überall selbstverständlich sein.
Dazu gehören insbesondere
- Freiwilligkeit
- Transparenz
- Vertraulichkeit
- Zuverlässigkeit
- Sensitivität
- Traumasensibilität
- Bewusstsein für Diversität und Inklusion
- Selbstreflexivität der Anleitenden in Bezug auf die eigene Biografie
Weitere Informationen finden Sie in unseren Veröffentlichungen (Morgenstern/Memory e.V. 2011, 2013 und 2015).