Für meine Enkeltochter
Liebe Mascha,
ich bin deine Oma. Wie du weißt, heiße ich Katja. Der Name kommt aus dem Griechischen und bedeutet „rein“ und „aufrichtig“.
Geboren bin ich am 01. September 1956 in Riga, das liegt in Lettland am Baltischen Meer. Ich war das erste von zwei Geschwistern und habe einen Bruder. Sein Name ist Vladislav.
Und jetzt schreibe ich für dich, mein Sonnenschein, die wahren Geschichten, die ich als Kleinkind von meinen Verwandten gehört habe, auf.
Berlin, Mai-Juni 2012
(Foto)
Olja
1910, zwischen Tula und Koselsk
Russisches Reich
Olja
Es lebte einmal vor 100 Jahren ein kleines Mädchen namens Antonina. Zuhause wurde sie Olja genannt. Sie war 5 Jahre alt. Sie trug ihre roten Haare in langen Zöpfen, ein Kleid und eine Schürze mit einer großen Tasche. Sie hatte drei ältere Brüder – Viktor, Nikolai und Alexander. Die Brüder liebten sie, aber oft machten sie Scherze über sie und lachten sie aus.
Die Familie wohnte in der Nähe des Waldes. Olja und ihre Brüder waren einmal im Wald und haben dort einen Hasen gesehen. Der Hase war grau, mit langen Ohren und mit einem kurzen, buschigen weißen Schwänzchen. Olja wollte ihn so gerne streicheln! Aber der Hase war auf einmal weg. Die kleine Olja brach in Tränen aus:“Ich möchte den Hasen fangen!“ – „Weine nicht, Olja,“ – sagten die Brüder. „Geh nach Hause, hole Salz und tu es in deine Schürzentasche. Weil man den Hasen nur so fangen kann – man muss dem Hasen Salz auf den Schwanz streuen. Dann wird der Hase dir überall hin folgen.“
Olja war blitzschnell nach Hause gelaufen und hat sich dort in der Küche die Taschen voll mit Salz gestopft. Und lange noch in diesem Sommer wanderte sie durch den Wald, beobachtend und immer auf der Hut, eine Hand in der Tasche voller Salz – bereit das buschige Schwänzchen zu bestreuen. Hase, wo bist du… Komm heraus!!
(Foto)
Mishenka
1928, Golta
Ukrainische Sozialistische Republik
Mishenka
Mishenka war ein 9-jähriger Junge. Er hatte acht kleinere Geschwister und viele Freunde. Wie alle Jungen wollte er sich wie ein echter Mann verhalten. Und das Rauchen gehörte sicherlich dazu. Aber Geld für Papirossen hatten die Freunde nie. Zeitungspapier und trockene Kuhkaka … ein Stück Papier abreißen, ein Häufchen Trockenzeug drauf legen, einrollen, anzünden und heiligen Qualm inhalieren …dabei würdevoll die ruhigen Männergespräche führen … im kleinen Kreis kniend heimlich mitten im hohen Sonnenblumenfeld … zirpende Zikaden. Und dann die hohe Stimme der Großmutter – „Vanja…Mishenka! Komm her!“ Dann schnell zu Großmutter laufen und ihr mit dem Wasser holen helfen. Und dann fragt die Großmutter: “Aber dein Mund riecht irgendwie komisch! Was hast du gemacht?“ – „ Gar nichts!“
(Foto)
Ein Sommerkleid
1939, Moskau
Russische Sozialistische Föderative Republik
Ein Sommerkleid
Ein 13-jähriges Mädchen namens Mascha hatte kein Sommerkleid. Material, um sich selbst eines zu machen hatte sie auch nicht. Und Geld sowieso kaum. Beide Eltern arbeiteten, aber verdienten wenig.
Der Frühling ist schon in vollem Gang mit blühendem Flieder, ersten Gewittern und Nachtigallgesang. Und Mascha hat nur dasselbe braune Winterkleid zum Anziehen. Oh,je! Es ist einfach ungerecht!
Und dann bekommt sie plötzlich ein Geschenk – der königliche Reichtum – drei Meter mal ein Meter zwanzig neuen, reinen weißen Mull! Hurra! Der Sommer ist gerettet! Ihre kleinen Hände sind tüchtig, schnell, tapfer und kreativ. Hoppla – und mit Hilfe von einem Fläschchen Schultinte wird Mull zum wunderschönen, edlen, dunkelblauen Material. Es trocknet schnell auf der Wäscheleine. Dann ruck-zuck mit der Schere ein Kleid ausschneiden und ihr erstes Kleid auf der alten „Singer“-Nähmaschine nähen. Und als sie das Kleid anzieht und sich im Spiegel ansieht – wie klopft das kleine Herzchen vor junger Freude! Und sie geht raus, um sich in voller Größe in den glitzernden Schaufenstern zu bewundern. Wie jung, leicht und schön fühlt sie sich!
Sie spaziert, wandert und läuft, bis ein heftiges Gewitter mit strömendem Regen beginnt. Und dann … oh je! – Wasser und Tinte vermischen sich und fließen an ihrem ganzen Körper bis zu den Füßen hinunter. Der Mull wird nass und ganz dünn… Es donnert und blitzt und niemand bemerkt das Mädchen, das weinend und heulend durch die Straßen nach Hause rennt.
(Foto)
Das Baby-Foto
1957, Jurmala
Lettische Sozialistische Sowjetische Republik
Das Baby-Foto
Ich, deine Oma, war auch einmal ein Baby, auch wenn du dir das vielleicht kaum vorstellen kannst. Als ich gerade ein Jahr alt geworden war, wollten meine Eltern mich fotografieren lassen. Wir hatten damals den Teil eines Sommerhauses gemietet im Kurort Jurmala am Baltischen Meer. Die Strände dort sind weiß und endlos.
Wie an allen Kurorten, gibt es dort Fotografen, die Leute in der freien Natur fotografieren. So einem Fotografen haben meine Eltern den Auftrag gegeben, von mir ein Babyfoto am Strand zu machen. Der Fotograf war jung, sehr schlank und sehr hoch. Er hatte seinen Fotoapparat auf mich gerichtet und wollte schon den Knopf drücken, als das Kleinkind jedoch weg lief. Aber der Fotograf war nicht faul und lief hinter ihm her. Ich lief immer schneller, doch der Fotograf folgte mir. Das sah aus wie ein kleines Bällchen, dem ein langer Stock folgt. Für mich war das ein wunderschönes Spiel!
Kleine Füßchen liefen auf dem weißen Sand so schnell, dass die kaum zu sehen waren. Ich lief fort, hinter mir lief der Fotograf und ihm folgten meine Eltern. Es hat ziemlich lange gedauert, bis wenigstens ein Foto gelungen war.
Die Autorin bleibt auf Wunsch anonym.